Unsere Bevölkerungspyramide kippt. Gleichzeitig können wir uns Hoffnung machen auf einen immer länger währenden Lebensabend. Das lässt die Rente in einem spätherbstlichen goldenen Licht erstrahlen.
Wir brauchen halt nur irgendjemand, der für uns die Arbeit macht.
Wie nicht anders zu erwarten war, finden verschiedene Gruppen unterschiedliche Lösungen.
Als Andreas in unsere Abteilung kam, war er bereits 50. Er hatte eine ausgemergelte Gestalt, die sich nur in Zeitlupe bewegen konnte. Das einzig flinke an ihm waren seine Augen. Ein wacher Geist in einem welken Körper.
Etwa ein Vierteljahr dauerte es, bis wir an einem ruhigen Tag zusammenarbeiteten. Es gab nichts zu tun, und wir fremdelten eine Stunde miteinander. Dann taute er auf.
Andreas machte sein Abitur 1968, mitten in den Studentenunruhen als Jahrgangsbester. Vom alternativen Lebensstil der Hippies hielt er jedoch noch nichts. Staubtrocken war auch die Wahl seines Studienfaches: Maschinenbau. Er verliebte sich in seine spätere Frau, und sie heirateten in seinem zweiten Semester. Im dritten Semester kam ein erstes Kind. Und irgendwann gegen Ende des Studiums gebar sie ihm einen Sohn.
Das Studium schloss er nicht mehr als Bester ab. Trotz Nebenjob und Familie gelang es ihm jedoch es ein halbes Jahr unter Regelstudienzeit zu beenden.
Andreas fand schnell eine gutbezahlte Stelle in der badischen Anilin und Soda-Fabrik. BASF, erklärte er, nachdem er merkte, das sagte mir nichts. Die Stelle war zu Anfang fordernd, langweilte ihn jedoch bald.
Gegen Ende der siebziger Jahre kündigte er und machte sich selbstständig. Er vertrieb irgendeine besondere Art von Vakuumpumpen. Das Geschäft florierte. Wenn es so weiterging, würde er in ein paar Jahren ein gemachter Mann sein.
Es ging nicht so weiter.
Mit Ende Dreißig suchte eine schwere Krankheit Andreas heim. Das Geschäft konnte nicht mehr fortgeführt werden. Er verlor einen Gutteil seiner Gesundheit und seines Vermögens. Hätten die Ärzte, hätte die Schulmedizin, ihm besser helfen können? Andreas bezweifelte es.
Das erste mal in seinem Leben wandte er sich Alternativem zu. Er stürzte sich mit Feuereifer in die Lektüre alternativer Heilmethoden. Obwohl geschwächt, bot die Unmenge an Stoff ihm kaum Widerstand. Das Lernen fiel ihm schon immer leicht.
Andreas beschloss in der Rekonvaleszenz den Bruch mit seinem alten Leben. Er absolvierte eine Ausbildung zum Heilpraktiker. Und er machte sich nach erfolgreicher Prüfung als Heilpraktiker zum zweiten mal selbstständig.
Leider war dieser Selbstständigkeit kein großer Erfolg mehr beschieden. Ein paar Jahre lang schleppte sich die Praxis dahin. Mal mit kleinem Gewinn. Mal mit etwas größerem Verlust. Als Andreas schließlich akzeptierte die Praxis loszulassen, waren auch die letzten finanziellen Reserven verbraucht.
Er landete in der Dienstleistungsbranche am Flughafen. Die Arbeit unterforderte ihn geistig und überforderte ihn körperlich. Noch 14 Jahre bis zum gesetzlichen Renteneintritt. Pi mal Daumen 3400 Arbeitstage. Willkommen in der Tretmühle. In seinem ersten Lebensabschnitt als Ingenieur war ihm nie der Gedanke nach einer frühen Rente gekommen. Jetzt wünschte er es sich sehnlich. Aber ein baldiges Arbeitsende war in weite Ferne gerückt. Falls er sich auf ein karges Leben beschränken würde, käme er mit der gesetzlichen Rente und einer kleinen Erbschaft gerade so eben über die Runden.
Der Große Tag kam vor einem Jahr. Andreas ging mit 66,irgendwas Jahren in die Rente. Weitgehend unbemerkt gab er still und leise Flughafenausweis und Dienstkleidung ab. Dann setzte er sich das letzte mal in die Flughafenbahn und fuhr seinem Lebensabend entgegen.
Die Folgen sinkender Flugpreise hat zu einer langen Reihe unglücklicher Verlierer geführt. Natürlich die Umwelt, die unter dem vermehrten Ausstoß des Kohlendioxids zu leiden hat. Mitarbeiter an Flughäfen, die von dem vermehrten Ansturm der Passagiere gestresst sind. Lärmsensible Bürger, die das Pech haben, unter einer Einflugschneise zu wohnen.
Es gibt aber auch Gewinner!
Gut ein Jahr, nachdem er seinen Hut nehmen konnte, sah ich ihn am Flughafen wieder. Andreas saß in einer abgelegenen Ecke. Müde sah er auf das Vorfeld. Auf dem Schoß hatte er eine alte Tupperware-Dose. Die linke Hand hielt eine Möhre, die rechte ein Vollkornbrot. Irgend ein braun-graues Zeug quoll zwischen den Scheiben hervor. Andreas hat ein Faible für merkwürdige vegane Brotaufstriche.
„Was machst du hier?!“ fragte ich. Eine dumme Frage. Die Dienstuniform und der Ausweis hingen schlaff an ihm herab.
Die Möhren-Hand machte träge einen Kreis in die Luft. „Der Flughafen wächst.“ Er lächelte schwach. „Sie brauchen erfahrene Kräfte.“
Da war er also wieder. Ein Jahr lang hatte er Zeit gehabt, sich zu regenerieren. Andreas hatte allerdings auch ein Jahr Zeit gehabt, dem Abschmelzen seiner finanziellen Reserven zu zu schauen. Sein neuer Plan sieht vor bis 70 zu arbeiten.
Dann sollte der Ruhestand endgültig in trockenen Tüchern sein.
Und unter dem Schlagwort Rente findet ihr noch mehr Glückliche, die es geschafft haben, dem Arbeitsleben frühzeitig eine lange Nase zu drehen. Zum Beispiel:
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Danke für diesen tollen Blog. Macht weiter so.